13
Als Abel in dieser Nacht in seinem kleinen Zimmer im Plaza Hotel wach lag und an jenen William dachte, dessen Vater stolz auf den Sohn gewesen wäre, wurde ihm zum erstenmal klar, was er im Leben erreichen wollte: er wollte von den Williams dieser Welt als ihresgleichen akzeptiert werden.
Abel hatte es nach seiner Ankunft in New York nicht leicht gehabt. Er mußte mit George und zwei seiner Cousins ein Zimmer teilen, in dem sich nur zwei Betten befanden, und er konnte daher nur schlafen, wenn eines der Betten frei war. Georges Onkel konnte ihm keine Arbeit geben, und Abel suchte ein paar Wochen lang, in denen er beinahe seine ganzen Ersparnisse verbrauchte, zwischen Brooklyn und Queens nach einem Broterwerb. Schließlich fand er Arbeit bei einem Fleischer, der ihm für eine Sechseinhalb-Tage-Woche neun Dollar bezahlte und ihm erlaubte, in einer Kammer über dem Laden zu schlafen. Der Laden lag im Herzen eines beinahe autonomen kleinen polnischen Viertels an der unteren East Side, und Abel verlor bald die Geduld mit der Ghettomentalität seiner Landsleute, von denen die meisten sich nicht einmal die Mühe nahmen, ein bißchen Englisch zu lernen.
An den Wochenenden traf er regelmäßig mit George und seinen fortwährend wechselnden Mädchen zusammen, doch an den meisten freien Abenden besuchte er einen Kurs, in dem er englisch lesen und schreiben lernte.
Seine langsamen Fortschritte bekümmerten ihn nicht, denn er hatte seit seinem achten Lebensjahr kaum Gelegenheit gehabt, überhaupt zu schreiben. Nach zwei Jahren sprach er Englisch fließend; er hatte nur den Anflug eines Akzents behalten. Jetzt war er bereit, den Fleischerladen zu verlassen - aber wie und wohin sollte er gehen? Als er eines Tages eine Lammkeule zurichtete, hörte er einen der besten Kunden des Geschäfts, den Personalchef des Plaza Hotels, sich darüber beklagen, daß er einen jungen Kellner wegen eines kleinen Diebstahls hatte entlassen müssen.
»Wo soll ich so rasch einen Ersatz hernehmen?« ärgerte sich der Manager.
Der Fleischer wußte keine Lösung. Abel wußte sie. Er zog seinen einzigen Anzug an, ging siebenundvierzig Häuserblocks weiter und bekam die Stellung.
Kaum war er im Plaza, schrieb er sich in einen Abendkurs an der Columbia University ein. Abend für Abend arbeitete er und schrieb, das Wörterbuch in der Hand, vor sich hin. Am Morgen, zwischen dem Servieren des Frühstücks und dem Tischdecken für den Lunch, kopierte er den Leitartikel der New York Times und schlug jedes ihm unbekannte Wort in seinem Wörterbuch nach, das er antiquarisch gekauft hatte.
In den folgenden drei Jahren arbeitete sich Abel durch die Reihen der Kellner im Plaza hinauf, bis er schließlich zum Kellner im Oak Room avancierte und mit Trinkgeldern fünfundzwanzig Dollar pro Woche verdiente. In seiner eigenen Welt fehlte es ihm an nichts.
Abels Lehrer an der Columbia University war von
seinen Fortschritten in Englisch so beeindruckt, daß er ihm riet,
einen weiteren Abendkurs zu besuchen; das würde der erste Schritt
zum B. A., dem Bachelor of Art, und damit zu einem akademischen
Grad sein. Abel stellte sich um und konzentrierte sich in seiner
Freizeit nicht mehr auf Englisch, sondern auf Finanzwissenschaften;
er schrieb die Leitartikel des Wall Street
Journal und nicht mehr jene der New York
Times ab. Seine neue Welt nahm ihn völlig gefangen, und von
George abgesehen, verlor er jeden Kontakt mit seinen polnischen
Freunden.
Wenn Abel im Oak Room servierte, studierte
er alle berühmten Gäste
- die Bakers, Loebs, Whitneys, Morgans und Phelps - und versuchte
festzustellen, was die Reichen von den übrigen Menschen
unterschied. Er las The American Mercury
von H. L. Mencken, Scott Fitzgerald, Sinclair Lewis und Theodore
Dreiser; sein Wissensdurst war unersättlich. Während die anderen
Kellner den Mirror durchblätterten,
studierte er die New York Times, und
während die anderen in ihrer Arbeitspause vor sich hin dösten, las
er das Wall Street Journal. Wohin ihn sein
frisch erworbenes Wissen führen würde, wußte er nicht, aber nie
bezweifelte er den Grundsatz des Barons, daß es für gute Erziehung
keinen Ersatz gab.
An einem Donnerstag im August 1926 - er erinnerte sich gut, denn es war der Tag, an dem Rodolfo Valentino starb und viele der Damen, die in der Fifth Avenue auf Einkaufsbummel waren, Trauer trugen servierte Abel wie immer an einem der Ecktische. Diese Tische waren für Geschäftsmagnaten reserviert, die ungestört und ohne Angst, gehört zu werden, speisen wollten. An diesem bestimmten Tisch servierte er besonders gern, denn hier wurden oft neue Geschäfte angebahnt, und aus den Bruchstücken der Gespräche entnahm Abel oft wertvolle kleine Hinweise. Kam der Gastgeber von einer Bank oder einer großen Holdinggesellschaft, so informierte sich Abel nach dem Lunch über den finanziellen Stand des Unternehmens der Gäste. Hatte er das Gefühl, das Gespräch sei besonders gut verlaufen, so investierte er hundert Dollar in Aktien des kleineren Unternehmens, in der Hoffnung, es werde von der größeren Gesellschaft übernommen werden oder könne mit deren Hilfe expandieren. Bestellte der Gastgeber nach der Mahlzeit Zigarren, so riskierte Abel zweihundert Dollar. Sieben- von zehnmal verdoppelte sich der Wert der Aktien, die er auf diese Weise erwarb, innerhalb von sechs Monaten - das war der Zeitraum, den er sich für das Halten der Aktien gesetzt hatte. Während der vier Jahre, die er im Plaza arbeitete, verlor er nur dreimal Geld.
Was an diesem bestimmten Tag so ungewöhnlich
war an dem Ecktisch, war, daß die Gäste bereits vor der Mahlzeit
Zigarren bestellten. Später kamen neue Gäste, die ebenfalls
Zigarren bestellten. Abel suchte in dem Buch für
Tischreservierungen nach dem Namen des Gastgebers. Woolworth.
Diesen Namen hatte er vor kurzem auf der Finanzseite gelesen, wußte
jedoch im Moment nicht, wohin er gehörte. Ein anderer Gast war
Charles Lester, ein regelmäßiger Besucher des Plaza und, wie Abel
wußte, ein bekannter Bankier. Während er das Essen servierte, hörte
er zu, so gut er konnte. Die Gäste zeigten absolut kein Interesse
für den aufmerksamen Kellner. Abel konnte keine Einzelheiten
aufschnappen, glaubte aber zu verstehen, daß man irgendeinen
Vertrag abgeschlossen hatte, der der Öffentlichkeit im Lauf des
Tages mitgeteilt werden sollte. Dann plötzlich erinnerte er sich.
Er hatte den Namen im Wall Street Journal
gelesen. Woolworth war der Mann, der Amerikas erstes
Five-and-tenCent-Warenhaus eröffnen würde. Während die Gäste das
Dessert aßen
- einen von Abel empfohlenen Erdbeer- und Quarkkuchen -, verließ er
rasch für ein paar Minuten den Speisesaal und rief seinen Makler in
der Wall Street an.
»Wie hoch steht Woolworth im Augenblick?« fragte er.
Am anderen Ende des Drahtes trat eine kurze Pause ein. »Zwei und eins Komma acht. In letzter Zeit ziemlich viel Bewegung, obwohl ich nicht weiß, warum«, war die Antwort.
»Kaufen Sie bis zum Limit meines Kontos, bis Sie im Lauf des Tages eine Erklärung der Gesellschaft hören.«
»Was wird diese Erklärung beinhalten?« fragte der verwunderte Makler.
»Ich bin nicht in der Lage, diese Art von Information telefonisch weiterzugeben«, sagte Abel.
Der Makler war entsprechend beeindruckt; Abels bisherige Käufe hatten ihn bewogen, sich nicht zu genau nach dessen Informationsquellen zu erkundigen.
Abel eilte in den Speisesaal zurück, um den Kaffee zu servieren. Die Gäste blieben noch eine Weile sitzen, und Abel kehrte erst an den Tisch zurück, als man aufbrach. Der Herr, der die Rechnung übernahm, dankte Abel für die aufmerksame Bedienung und sagte so laut, daß seine Freunde es hören konnten: »Wollen Sie einen Tip, junger Mann?«
»Gern, Sir«, sagte Abel.
»Kaufen Sie Woolworth-Aktien.«
Alle Gäste lachten. Auch Abel lachte, erhielt fünf Dollar
Trinkgeld
und bedankte sich. Während der folgenden sechs Monate strich er 2412 Dollar Profit aus den Woolworth-Aktien ein.
Als Abel kurz nach seinem einundzwanzigsten Geburtstag die Staatsbürgerschaft der Vereinigten Staaten erhielt, beschloß er, dieses Ereignis zu feiern. Er lud George und Monika, Georges neueste Liebe, und ein Mädchen namens Clara, Georges verflossene Liebe, ins Kino ein - man spielte »Don Juan« mit John Barrymore - und nachher zum Abendessen bei Bigo’s. George war immer noch Gehilfe in der Bäckerei seines Onkels und verdiente acht Dollar pro Woche. Obwohl Abel ihn als seinen besten Freund ansah, merkte er, daß der Unterschied zwischen ihm und dem mittellosen George immer größer wurde. Er hatte jetzt über achttausend Dollar auf der Bank liegen und sein letztes Jahr an der Columbia University beendet, um seinen B. A. in Wirtschaftswissenschaften zu machen. Abel wußte, was sein Ziel war, während George niemandem mehr erzählte, daß er eines Tages Bürgermeister von New York sein würde.
Die vier verbrachten einen denkwürdigen Abend, nicht zuletzt deshalb, weil Abel genau wußte, was man von einem guten Restaurant erwarten darf. Seine drei Gäste aßen alle viel zuviel, und als die Rechnung kam, war George sprachlos; der Betrag war höher als sein Monatsgehalt. Abel zahlte die Rechnung, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen. Muß man eine Rechnung bezahlen, dann tue man es so, als sei der Betrag ganz unwesentlich. Ist er es nicht, dann meide man in Zukunft das Restaurant; aber was immer man tut, man mache keine Bemerkungen und schaue nicht überrascht drein - auch das hatte Abel von den Reichen gelernt.
Als die vier sich gegen zwei Uhr morgens trennten, kehrten George und Monika nach der unteren East Side zurück; Abel dagegen fand, daß er sich Clara verdient hatte. Er schmuggelte sie durch den Bediensteteneingang des Plaza und mit dem Wäscheaufzug in sein Zimmer. Sie war rasch bereit, sich ins Bett zu legen, und Abel erledigte eilig, was er erledigen wollte. Schließlich mußte er ordentlich schlafen, bevor er sich zum Frühstücksdienst meldete. Zu seiner Zufriedenheit war alles um halb drei Uhr vorüber, und er versank in tiefen Schlaf, bis sein Wecker um sechs Uhr schrillte. Er hatte eben noch genug Zeit, um Clara vor dem Anziehen rasch nochmals zu lieben.
Clara setzte sich im Bett auf und schaute
schmollend zu, wie Abel die weiße Krawatte band und sie flüchtig
zum Abschied küßte.
»Nimm den Weg, den wir gekommen sind, sonst kriege ich eine Menge
Schwierigkeiten«, sagte Abel. »Wann sehe ich dich
wieder?«
»Nie«, sagte Clara eisig.
»Warum nicht?« fragte Abel erstaunt. »Habe ich dir etwas
getan?«
»Nein, du hast mir etwas nicht getan.«
Sie sprang aus dem Bett und zog sich rasch an.
»Was hab ich dir nicht getan?« fragte Abel gekränkt. »Du wolltest
doch mit mir ins Bett gehen, oder nicht?«
Sie drehte sich um und schaute ihn an. »Das dachte ich, bis ich
feststellte, daß du nur etwas mit Valentino gemein hast - ihr seid
beide tot. Du magst das Beste sein, was das Plaza in einem
schlechten Jahr gesehen hat, aber im Bett bist du eine
Niete.«
Sie war jetzt fertig angezogen, und, die Hand an der Türklinke,
versetzte sie ihm ihren letzten Hieb. »Sag mir, ist es dir je
gelungen, mit einem Mädchen mehr als einmal ins Bett zu
gehen?«
Völlig sprachlos starrte Abel auf die zugeworfene Tür und
verbrachte den Tag damit, sich über Claras Worte den Kopf zu
zerbrechen. Es fiel ihm niemand ein, mit dem er das Problem hätte
besprechen können. George würde ihn bloß auslachen, und das
Personal des Plaza Hotels hielt ihn beinahe für allwissend.
Schließlich fand er, daß das Problem, wie viele andere in seinem
Leben, mit Wissen oder mit Erfahrung gelöst werden müsse.
An seinem freien Nachmittag ging er nach dem Lunch in Scribner’s
Buchladen auf der Fifth Avenue. Bücher hatten alle seine
ökonomischen und sprachlichen Probleme gelöst, aber er fand nichts,
das so aussah, als könne es ihm auch nur im entferntesten bei
sexuellen Problemen von Nutzen sein. Ein Buch über Etikettefragen
war sinnlos, und The Nature of Morals von
W. F. Colbert erwies sich ebenfalls als gänzlich
ungeeignet.
Abel verließ den Buchladen, ohne etwas zu kaufen, und verbrachte
den Rest des Nachmittags in einem schäbigen Kino am Broadway, ohne
den Film wirklich anzuschauen; er dachte nur über Claras Worte
nach. Der Film, eine Liebesgeschichte mit Greta Garbo, gipfelte
ganz zum Schluß in einem Kuß und war ebensowenig hilfreich wie
Scribner’s Buchladen.
Als Abel aus dem Kino kam, war der Himmel bereits dunkel, und ein
kalter Wind fegte den Broadway hinunter. Es erstaunte Abel immer
noch, daß eine Stadt bei Nacht ebenso lärmend und hell sein konnte
wie bei Tag. Er ging in Richtung 59. Straße und hoffte, daß die
frische Luft Klarheit in seine Gedanken bringen würde. An der Ecke
der 53. Straße blieb er stehen und kaufte eine
Abendzeitung.
»Auf der Suche nach einem Mädchen?« fragte eine Stimme hinter dem
Zeitungsstand.
Abel blickte auf; die Frau war etwa fünfunddreißig, sehr stark
geschminkt; sie benutzte den modernsten Lippenstift. Ihre weiße
Seidenbluse war ein wenig geöffnet, und sie trug einen langen
schwarzen Rock, schwarze Strümpfe und schwarze Schuhe.
»Nur fünf Dollar. Gut angelegtes Geld«, sagte sie und schob eine
Hüfte vor, so daß sich der geschlitzte Rock teilte und ihre
Schenkel freigab.
»Wo?« fragte Abel.
»Ich hab im nächsten Block ein eigenes Zimmer.«
Sie wandte den Kopf, um Abel die Richtung anzudeuten, und jetzt sah
er im Licht der Straßenbeleuchtung ihr Gesicht deutlich. Sie war
nicht unhübsch. Abel nickte zustimmend, sie nahm seinen Arm, und
sie gingen.
»Wenn uns ein Polizist aufhält -«, sagte sie, »ich heiße Joyce, und
du bist ein alter Freund von mir.«
Sie gingen zum nächsten Block und betraten ein schäbiges
Apartmenthaus. Das trostlose Zimmer, von einer einzigen Glühbirne
erhellt, mit einem Stuhl, einem Waschbecken und einem zerwühlten
Doppelbett ausgestattet, das offensichtlich an diesem Tag bereits
mehrmals benützt worden war, entsetzte Abel.
»Hier wohnst du?« fragte er ungläubig.
»Mein Gott, nein. Dieses Zimmer ist nur für die Arbeit.«
»Warum machst du das?« fragte Abel und überlegte, ob er noch Lust
hatte, seinen Plan auszuführen.
»Ich habe zwei Kinder und keinen Mann. Weißt du einen besseren
Grund? Und jetzt: Willst du oder willst du nicht?«
»Ja, aber nicht so, wie du glaubst«, sagte Abel.
Sie betrachtete ihn argwöhnisch. »Gehörst du am Ende zu diesen
brutalen Typen, den Nachfolgern von Marquis de Sade?«
»Keineswegs«, sagte Abel.
»Du wirst mich also nicht mit Zigaretten verbrennen?«
»Nichts dergleichen«, sagte Abel verblüfft. »Ich möchte belehrt
werden, ich will Stunden nehmen.«
»Stunden? Mach keine Witze. Wofür hältst du das hier. Für einen
Abendkurs im Bumsen?«
»So ähnlich«, sagte Abel, setzte sich auf die Bettkante und
erzählte ihr, wie Clara letzte Nacht reagiert hatte. »Glaubst du,
daß du mir helfen kannst?«
Das Freudenmädchen schaute Abel prüfend an und fragte sich, ob man
wohl den 1. April schrieb.
»Natürlich«, sagte sie schließlich, »aber es wird dich jedesmal
fünf Dollar für eine halbe Stunde kosten.«
»Kostspieliger als ein B. A. an der Columbia«, sagte Abel. »Wie
viele Stunden werde ich brauchen?«
»Hängt davon ab, wie rasch du lernst, nicht wahr?« erwiderte
sie.
»Gut, also fangen wir an«, sagte Abel, nahm fünf Dollar aus der
Tasche und gab ihr das Geld. Sie steckte die Banknote in den
Strumpf, ein sicheres Zeichen dafür, daß sie ihn nie
auszog.
»Kleider runter, mein Schatz«, sagte sie. »Angezogen wirst du nicht
viel lernen.«
Als er sich ausgekleidet hatte, betrachtete sie ihn kritisch. »Ein
Double von Douglas Fairbanks bist du nicht gerade! Aber das macht
nichts. Wenn das Licht gelöscht ist, zählt nicht, wie du aussiehst,
sondern was du tust.«
Abel saß immer noch auf der Bettkante, während sie ihm erklärte,
wie man eine Dame behandelt. Sie war sehr erstaunt, daß Abel sie
tatsächlich nicht haben wollte, und noch erstaunter, als er während
der folgenden zwei Wochen täglich bei ihr erschien.
»Wann werde ich wissen, daß ich soweit bin?« fragte Abel.
»Das wirst du feststellen, mein Kind«, erwiderte Joyce. »Wenn du
mich dazu bringst, daß es mir kommt, dann gelingt es dir auch bei
einer ägyptischen Mumie.«
Zuerst erklärte sie ihm die empfindsamen Zonen eines Frauenkörpers,
dann lehrte sie ihn Geduld zu haben und zu erkennen, ob das, was er
tat, der Partnerin gefiel; wie er Lippen und Zunge überall, nur
nicht auf dem Mund einer Frau, benutzen könne.
Abel hörte aufmerksam zu und befolgte ihre Anweisungen peinlich
genau, anfangs allerdings zu mechanisch. Trotz ihrer
Versicherungen, daß er enorme Fortschritte mache, war er sich nicht
sicher, ob sie die Wahrheit sagte, bis Joyce drei Wochen und
hundertzehn Dollar später zu seiner Überraschung und Freude in
seinen Armen zum erstenmal lebendig wurde. Sie hielt seinen Kopf
eng an sich gepreßt, als er ihre Brustspitzen küßte. Als er sie
sanft zwischen den Schenkel streichelte, stellte er fest, daß sie -
zum erstenmal - feucht war. Als er in sie eindrang, stöhnte sie
leise, ein Ton, den Abel noch nie gehört hatte und überaus angenehm
fand. Sie bohrte ihre Nägel in seinen Rücken und befahl ihm,
weiterzumachen. Das Stöhnen ging weiter, manchmal leise, manchmal
lauter. Schließlich stieß sie einen kurzen Schrei aus, und die
Arme, die ihn so fest umklammert hatten, sanken zurück.
Als sie wieder zu Atem kam, erklärte sie: »Baby, du bist soeben
Klassenbester geworden.«
Abel selbst hatte keinen Orgasmus gehabt.
Abel feierte seinen Triumph, indem er George, Monika und eine
widerwillige Clara auf die besten Sitze zur Weltmeisterschaft im
Schwergewichtsboxen einlud. Nach dem Kampf fühlte sich Clara
verpflichtet, ihn für seine splendide Einladung zu belohnen und mit
ihm ins Bett zu gehen. Am nächsten Morgen flehte sie ihn an, sie
nicht zu verlassen.
Abel ging nie mehr mit ihr aus.
Nachdem Abel die Abschlußprüfung an der Columbia University abgelegt hatte, wurde er mit seiner Stellung im Plaza unzufrieden, wußte jedoch nicht, wie er weiterkommen sollte. Obwohl er mit den reichsten und erfolgreichsten Männern Amerikas zu tun hatte, konnte er an keinen der Gäste direkt herantreten. Wenn er es tat, riskierte er seine Stellung; und überdies hätte wohl keiner von ihnen die ehrgeizigen Wünsche eines Kellners ernst genommen. Abel hatte schon längst beschlossen, daß er Oberkellner werden wollte.
Eines Tages kamen Mr. und Mrs. Ellsworth Statler in den Edwardian Room des Plaza zum Lunch, wo Abel seit einer Woche für einen Kollegen eingesprungen war. Er sah seine Chance gekommen, tat alles nur Erdenkliche, um den bekannten Hotelier zu beeindrucken, und das Mahl verlief ausgezeichnet. Als Statler ging, bedankte er sich herzlich bei Abel und drückte ihm eine Zehn-Dollar-Note in die Hand. Das war das Ende ihrer Bekanntschaft. Abel sah ihn durch die Drehtür verschwinden und fragte sich, ob er jemals eine Chance bekommen würde.
Sammy, der Oberkellner, klopfte ihm auf die Schulter. »Was hast du von Mr. Statler bekommen?«
»Nichts«, sagte Abel zerstreut.
»Er hat dir kein Trinkgeld gegeben?« fragte Sammy ungläubig. »O
doch, natürlich«, erwiderte Abel, »zehn Dollar.«
Er übergab Sammy das Geld.
»Das ist besser«, sagte Sammy. »Ich dachte schon, du wolltest
mich
beschwindeln, Abel. Zehn Dollar, das ist sogar
für Mr. Statler viel. Du mußt ihn beeindruckt haben.«
»Nein.«
»Was willst du damit sagen?« fragte Sammy.
»Ach, ist egal«, sagte Abel und wollte fortgehen.
»Warte einen Moment, Abel, ich habe eine Nachricht für dich. Der
Herr von Tisch 17, ein Mr. Leroy, möchte persönlich mit dir
sprechen.«
»Worüber, Sammy?«
»Woher soll ich das wissen? Vermutlich haben ihm deine blauen Augen
gefallen.«
Abel schaute zu Tisch Nummer 17, der, weil er sich so nahe der
Schwingtür in die Küche befand, den Schüchternen und Unbekannten
vorbehalten war. Abel vermied es im allgemeinen, an den hinteren
Tischen zu servieren.
»Wer ist das?« fragte Abel. »Was will er?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Sammy und schaute nicht einmal hin. »Ich
bin nicht so informiert über die Lebensgeschichten unserer Gäste
wie du. Eine gute Mahlzeit servieren, ein ordentliches Trinkgeld
bekommen und hoffen, daß die Leute wiederkommen du hältst das
vielleicht für eine primitive Philosophie, aber mir genügt sie.
Vielleicht haben sie in Columbia vergessen, dir die grundlegenden
Weisheiten beizubringen. Und jetzt beweg dich dort hinüber, und
falls du ein Trinkgeld bekommst, vergiß nicht, es
abzuliefern.«
Abel lächelte dem glatzköpfigen Sammy zu und ging zu Tisch 17. Zwei
Leute saßen an dem Tisch, ein Mann in einem buntkarierten Sakko,
das Abel mißbilligte, und eine hübsche junge Frau mit
blondgelockten Haaren, die Abel einen Moment lang verwirrte;
vermutlich war sie die New Yorker Freundin des Kerls in der
karierten Jacke. Abel setzte ein »Es-tut-mir-so-leid-Lächeln« auf
und wettete bei sich einen Silberdollar, daß der Mann, um die
reizende Blondine zu beeindrucken, ein großes Getue wegen der
Schwingtür machen und einen anderen Tisch verlangen würde. Niemand
saß gern in der Nähe der Küchengerüche, dem andauernden Kommen und
Gehen der Kellner ausgesetzt; aber wenn das Hotel bereits voll mit
Hotelgästen und vielen New Yorkern war, die das Restaurant als
ihren täglichen Mittagstisch ansahen und jeden fremden Gast als
Eindringling betrachteten, dann mußte dieser Tisch eben benutzt
werden. Warum überließ ihm Sammy immer die mühsamen Gäste?
Vorsichtig näherte sich Abel dem Mann im karierten Sakko.
»Sie wollen mich sprechen, Sir?«
»Jawohl«, sagte der Mann mit dem Akzent der Südstaaten. »Mein Name
ist Davis Leroy, und das ist meine Tochter Melanie.«
Abels Augen wandten sich einen Moment von Mr. Leroy und trafen auf
ein Augenpaar von einem noch nie gesehenen Grün.
»Ich beobachte Sie seit fünf Tagen, Abel«, sagte Mr. Leroy in
seinem gedehnten südlichen Tonfall.
Hätte man ihn gefragt, so hätte Abel zugeben müssen, daß er Mr.
Leroy erst seit fünf Minuten bemerkt hatte.
»Ich war von dem, was ich gesehen habe, beeindruckt, Abel. Sie
haben Klasse, echte Klasse, und das suche ich immer. Ellsworth
Statler war ein Narr, Sie nicht sofort zu schnappen.«
Abel begann Mr. Leroy gründlicher zu studieren. Die roten Backen
und das Doppelkinn sprachen dafür, daß er die Prohibition
ignorierte. Daß er gutes Essen zu schätzen wußte, darauf deuteten
die leeren Teller und der kugelrunde Bauch hin. Aber weder der Name
noch das Gesicht sagten Abel etwas. Bei einem normalen Mittagessen
wußte Abel, wer die Gäste an den siebenunddreißig der
neununddreißig Tische im Edwardian Room
waren und wohin sie gehörten; an diesem Tag war Mr. Leroys Tisch
einer der zwei unbekannten gewesen.
Der Mann aus dem Süden sprach immer noch. »Ich gehöre nicht zu
jenen Multimillionären, die, wenn sie im Plaza wohnen, einen eurer
Ecktische haben müssen.«
Abel war beeindruckt. Von einem Durchschnittsgast erwartete man
nicht, daß er die relativen Vorteile der verschiedenen Tische
kannte.
»Aber ich kann mich nicht beklagen. Mein bestes Hotel kann durchaus
eines Tages so großartig werden wie dieses hier, Abel.«
»Sicherlich, Sir«, sagte Abel, um Zeit zu gewinnen.
Leroy, Leroy, Leroy. Der Name sagte ihm nichts.
»Lassen Sie mich zur Sache kommen, Freund. Das erste Hotel meiner
Gruppe braucht einen neuen Direktor-Stellvertreter, der die
Restaurants beaufsichtigt. Kommen Sie nach Ihrem Dienst auf mein
Zimmer, wenn Sie daran interessiert sind.«
Er übergab Abel eine große, geprägte Visitenkarte.
»Danke, Sir«, sagte Abel und schaute darauf: Davis Leroy. Die
Richmond-Hotelgruppe, Dallas. Darunter stand das Motto: »Eines
Tages ein Hotel in jedem Bundesstaat.«
Noch immer wußte Abel mit dem Namen nichts anzufangen.
»Ich freue mich darauf, mich mit Ihnen zu unterhalten«, sagte der
freundliche, karierte Texaner.
»Danke, Sir«, erwiderte Abel. Er lächelte Melanie an, deren Augen
so grün waren wie zuvor, und kehrte zu Sammy zurück, der immer noch
mit gesenktem Kopf seine Trinkgelder zählte.
»Hast du jemals von einer Richmond-Hotelgruppe gehört,
Sammy?«
»Natürlich, mein Bruder hat einmal als Hilfskellner dort
gearbeitet. Es müssen insgesamt acht oder neun Hotels sein, die
über den ganzen Süden verstreut sind. Werden von einem verrückten
Texaner geführt, aber ich habe seinen Namen vergessen. Warum fragst
du?«
Sammy schaute mißtrauisch auf.
»Kein bestimmter Grund«, sagte Abel.
»Du hast für alles einen Grund. Was wollte Tisch 17?« fragte
Sammy.
»Beklagte sich über den Lärm aus der Küche. Kann man ihm auch nicht
verübeln.«
»Was erwartet er, soll ich ihn auf die Veranda setzen? Wofür hält
sich der Knabe, für John D. Rockefeller?«
Abel überließ Sammy seinem Gebrumme und seinen Trinkgeldern; er
selbst räumte so rasch wie möglich seine Tische ab. Dann ging er in
sein Zimmer und versuchte etwas über die Richmond-Gruppe zu
erfahren; ein paar Anrufe, und seine Neugierde war befriedigt. Die
Gruppe war eine Privatgesellschaft mit insgesamt elf Hotels; das
eindrucksvollste war das Richmond Continental, ein Luxushotel in
Chikago mit dreihundertzweiundvierzig Doppelzimmern. Abel fand, daß
ein Besuch bei Mr. Leroy und Melanie nicht schaden könne. Mr. Leroy
hatte Nummer 85, eines der besseren kleineren Zimmer. Abel ging
kurz vor vier Uhr zu ihm und war ein wenig enttäuscht, daß Melanie
nicht mehr bei ihrem Vater war.
»Nett, daß Sie kommen, Abel. Setzen Sie sich.«
Es war das erstemal in mehr als vier Jahren, daß sich Abel im Plaza
als Gast niedersetzte.
»Wieviel verdienen Sie?« fragte Mr. Leroy.
Abel war auf die abrupte Frage nicht gefaßt. »Mit Trinkgeldern
verdiene ich pro Woche rund fünfundzwanzig Dollar.«
»Ich biete ihnen als Anfangsgehalt fünfunddreißig pro
Woche.«
»Von welchem Hotel sprechen Sie?« fragte Abel.
»Wenn ich Sie richtig beurteile, Abel, waren Sie um halb vier mit
Ihrem Dienst fertig und haben die nächste halbe Stunde damit
verbracht, sich über meine Hotels zu informieren? Habe ich
recht?«
Abel begann den Mann sympathisch zu finden. »Das Richmond
Continental in Chikago?« fragte er zögernd. Davis Leroy lachte.
»Ich hatte recht. Ich habe mich nicht getäuscht in
Ihnen.«
Abel überlegte rasch. »Wieviel Hotelangestellte stehen über dem
Direktor-Stellvertreter?«
»Nur der Direktor und ich. Der Direktor ist langsam, freundlich und
tritt bald in den Ruhestand. Da ich mich um zehn andere Hotels
kümmern muß, werden Sie es vermutlich nicht schlecht haben - obwohl
ich gestehen muß, daß das Hotel in Chikago, mein erstes Hotel im
Norden, mein Liebling ist. Da Melanie dort zur Schule geht,
verbringe ich mehr Zeit in der Windy City,
als ich sollte. Verfallen Sie nie in den Irrtum der meisten New
Yorker, Chikago zu unterschätzen. Sie glauben, Chikago sei nur eine
Briefmarke auf einem großen Kuvert, und sie selbst seien das
Kuvert.«
Abel lächelte.
»Im Moment ist das Hotel nicht gut geführt«, fuhr Mr. Leroy fort.
»Der letzte Direktor-Stellvertreter kündigte ohne nähere Erklärung,
daher brauche ich einen guten Mann, der etwas aus dem Hotel
herausholt. Hören Sie zu, Abel, ich habe Sie die letzten fünf Tage
genau beobachtet, und ich glaube, Sie sind der richtige Mann dafür.
Wären Sie interessiert, nach Chikago zu gehen?«
»Vierzig Dollar und zehn Prozent vom vermehrten Gewinn, dann
übernehme ich den Job.«
»Was?« fragte Davis Leroy fassungslos. »Keiner meiner Direktoren
ist am Gewinn beteiligt. Die anderen wären empört, wenn sie davon
erführen.«
»Wenn Sie es ihnen nicht sagen - ich sage
es ihnen bestimmt nicht«, erklärte Abel.
»Jetzt weiß ich, daß ich den richtigen Mann gewählt habe, auch wenn
er härter verhandelt als ein Yankee mit sechs Töchtern.«
Er klopfte auf die Stuhllehne. »Ich bin einverstanden,
Abel.«
»Brauchen Sie Referenzen, Mr. Leroy?«
»Referenzen? Ich kenne Ihre Geschichte von Ihrer Ankunft in Amerika
bis zu Ihrer Abschlußprüfung in Wirtschaftswissenschaften. Was,
glauben Sie, habe ich die letzten fünf Tage gemacht? Jemanden, von
dem ich Referenzen brauche, würde ich nie als zweiten Mann in mein
bestes Hotel nehmen. Wann können Sie anfangen?«
»Heute in einem Monat.«
»Gut. Ich freue mich, Sie dann zu sehen.«
Abel erhob sich, stehend fühlte er sich wohler. Er schüttelte Mr.
Leroy die Hand - dem Mann von Tisch 17, der nur an Unbekannte
vergeben wird.
New York und das Plaza Hotel zu verlassen, sein erstes richtiges Heim seit dem Schloß in Slonim, war schwieriger, als Abel gedacht hatte. George, Monika und seinen wenigen Freunden von der Universität Lebewohl zu sagen, fiel ihm unerwartet schwer. Sammy und die Kellner gaben ihm eine Abschiedsparty.
»Abel Rosnovski, von dir werden wir bestimmt noch hören«, sagte Sammy, und alle stimmten ihm zu.
Das Richmond Continental lag in der Michigan Avenue im Herzen von Chikago, der am schnellsten wachsenden Stadt Amerikas. Das gefiel Abel, der sich Ellsworth Statlers Grundsatz eingeprägt hatte: Bei einem Hotel sind nur drei Dinge wirklich wichtig: die Lage, die Lage, die Lage. Abel stellte allerdings rasch fest, daß eine gute Lage ungefähr das einzige war, das für das Richmond sprach. Davis Leroy hatte mit seiner Bemerkung, das Hotel sei schlecht geführt, nicht übertrieben. Desmond Pacey, der Direktor, war nicht sanft und langsam, wie Leroy ihn beschrieben hatte; er war einfach faul, und er wurde Abel nicht sympathischer, als er ihm ein winziges Zimmer im Personalgebäude auf der anderen Straßenseite zuwies. Eine kurze Buchprüfung ergab, daß durchschnittlich weniger als vierzig Prozent der Hotelzimmer belegt waren und daß das Restaurant für gewöhnlich halb leer war, nicht zuletzt wegen der schlechten Küche. Das Personal unterhielt sich in drei oder vier Sprachen, zu denen Englisch nicht gehörte, und der dumme Polacke aus New York wurde von niemandem willkommen geheißen. Es war nicht schwer festzustellen, warum der letzte Direktor-Stellvertreter auf und davon gegangen war. Falls das Richmond wirklich Davis Leroys Lieblingshotel war, dann fürchtete Abel für die anderen Hotels das Schlimmste - auch wenn sein neuer Dienstgeber in Texas unerschöpfliche Mittel zu besitzen schien.
Die einzig erfreuliche Nachricht, die Abel kurz nach seiner Ankunft in Chikago erfuhr, war, daß Melanie Leroy das einzige Kind seines Dienstherrn war.